Sien Volders: Norden

  Im Zweifel immer nordwärts

Wie kommt eine junge Belgierin auf die Idee zu einem Roman, der am nördlichen Rand der Zivilisation angesiedelt ist? Die 1983 in Gent geborene Innenarchitektin, Journalistin und Lektorin Sien Volders wurde beim Besuch eines Freundes in Dawson City, gut 200 Kilometer südlich des Polarkreises, zu einer Geschichte inspiriert, die zwischen 1976 und 1988 vorwiegend an der Grenze zwischen Kanada und Alaska spielt, im fiktiven ehemaligen Goldgräberstädtchen Forty Mile, der „einzigen und letzten Stadt nördlich von allem“ (S. 25). Dorthin flieht die erfolgreiche junge Silberschmiedin und Designerin Sarah „Torun“ Aysgarth, als sie überraschend ein Angebot einer großen Schmuckfirma erhält:

Ich wollte weg aus Vancouver. Ich muss nachdenken und eine Entscheidung treffen, und das kann ich am besten unterwegs. Der Norden schien mir eine gute Idee. (S. 41)

Eine Woche ist sie mit ihrem Auto unterwegs, ehe sie in Forty Mile ankommt. Spontan und für sie selbst überraschend bietet ihr die Besitzerin des General Store und der Post, die etwa 60-jährige Witwe Mary Calhoun, ein Zimmer an:

Was war in sie gefahren, diese junge Frau zu sich einzuladen? Ob es am Auto lag? Oder an der Art, wie Sarah von der Reise erzählte? An der Behutsamkeit, mit der sie ihre Worte wählte.
Ein Gefühl des Wiedererkennens. (S. 44)

© B. Busch

Zwei Frauen, vier Männer
Mary, einst erfolgreiche Malerin, kam vor vielen Jahren nach Forty Mile, um ihren Weg zwischen Kunst, Kommerz und Ausstieg zu finden. Wie Sarah traf auch Mary auf zwei Männer, Rick Calhoun und den Trapper Walker, und musste sich entscheiden. Sarah lernt die Freunde Adam und Jacob kennen, beide Zugezogene. Adam ist ein radikaler Künstler, Geiger, der das Royal Conservatory Toronto verließ, als er zum ersten Mal athabaskische Musik hörte, eine Verschmelzung zwischen den Geigenliedern der ersten irischen und schottischen Trapper und der Ureinwohner. Aber er ist nicht für den Norden gemacht: Mit jedem langen, harten Winter stürzt er mehr ab, mit jedem Jahr versinkt er tiefer im Alkohol, wie so viele vor ihm, die ihre Kraft überschätzten. Jacob dagegen kennt die eigenen Grenzen. Er will zukünftig nur noch die Sommer im Norden verbringen und warnt Adam:

Ich habe es satt zu sehen, wie der Norden dich langsam zugrunde richtet. Ich wünschte, du würdest das auch einsehen. (S. 124)

Nordwärts, um sich selbst zu finden
Alle, die nicht in Forty Mile geboren wurden, kamen hierher auf der Suche nach sich selbst. Auf sich zurückgeworfen, muss jede und jeder seinen Knoten am Ende alleine lösen, sich von äußeren Zwängen befreien und entscheiden, welchen Raum die Kunst im eigenen Leben einnehmen soll. Dass man dabei eine neue Heimat oder Heimat auf Zeit, Freunde, Liebe und vieles mehr finden kann, davon erzählt Sien Volders in ihrem Debütroman. Das ist sehr viel Stoff für nicht einmal 300 Seiten und manchmal hätte ich mir mehr Tiefe beim Innenleben der Figuren gewünscht.

Was diese Künstler-, Liebes- und Freundschaftsgeschichte wirklich besonders macht, ist die eindringliche Beschreibung der herben Schönheit Nordkanadas, der Natur, der Jahreszeiten, der Geschichte, der eingeschworenen Gemeinschaft, der Ureinwohner, der Musik, der Legenden und des alltäglichen Lebens am Rande der Zivilisation.

Nordwärts. Im Zweifel immer nordwärts. (S. 251)

Sien Volders: Norden. Aus dem Niederländischen übersetzt von Bettina Bach. Residenz 2020
www.residenzverlag.com

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert